Samstag, 30. Januar 2016

Auschwitz und Pegida: Die letzten 17 Sekunden der Anja Reschke

von Gert Buurmann...
Der Beitrag von Anja Reschke ist an und für sich ein hervorragender Kommentar, über die, laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung, 58 % aller Deutschen, die einen Schlussstrich hinter Auschwitz ziehen wollen, wären da nur nicht die letzten siebzehn Sekunden gewesen.
Zunächst kritisierte Anja Reschke die Schlussstrichrethorik mancher Zeitgenossen:
“Ich habe gestern die Dokumentation über Kameraleute der alliierten Truppen gesehen, die gefilmt haben, als die Konzentrationslager befreit wurden, die kamen, als die Schornsteine der Krematorien noch rauchten, die über Berge von Leichen gestiegen sind, Bilder von Skeletten mit ein bisschen Haut darüber, offene Münder, verdrehte Gliedmassen. Heute sind diese Kameraleute von damals Männer von über 90 Jahren. Als sie erzählt haben, haben sie angefangen zu weinen. Keiner von ihnen kann ein Schlussstrich ziehen, genauso wenig wie die Opfer, die überlebt haben. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, aber noch sind sie da. Und ihnen schmettern wir entgegen, es muss doch mal Schluss sein? Ausgerechnet wir? Es gibt kein Schlussstrich in der Geschichte!”
Etwas später erklärte sie:
“Ich bin dritte Generation. Ich war nicht dabei und trotzdem habe ich mich geschämt, als ich wieder diese Bilder gesehen habe, weil es zu meiner Identität als Deutscher gehört, ob ich will oder nicht.”
Dann aber folgten die siebzehn Sekunden, die alles relativieren, was sie vorher gesagt hatte:
“Nach diesem Film konnte ich nicht schlafen, also habe ich umgeschaltet und was sehe ich? Menschen in Dresden, die sich aufregen über ‘die vielen Ausländer in Deutschland’. Ganz ehrlich, da ist mir dann wirklich schlecht geworden.”
Zunächst stolperte ich über das Wort “wirklich”. Was soll das heißen, dachte ich, beiPEGIDA wird ihr “wirklich schlecht”? War ihr vorher bei Auschwitz nicht wirklich schlecht geworden? Sie hätte sagen können, “mir wurde schlecht” oder “mir wurde wieder schlecht”, aber sie sagte, bei dem Anblick von PEGIDA sei ihr “wirklich schlecht”geworden. Auschwitz hatte nur eine Schlafstörung ausgelöst.
Vermutlich war es nur eine Achtlosigkeit von ihr, dachte ich, auch einer ausgezeichneten Journalistin rutscht mal ein unpassendes Füllwort durch, aber die letzten siebzehn Sekunden ließen mich nicht los. Irgendwas war faul an daran. Dann kam mir der Gedanke.
Ich habe in meiner Schulzeit jeden 9. November mit dem Schulchor vor dem Gedenkstein in meinem Heimatdorf gesungen, der an die Synagoge erinnert, die 1938 von den Nazis niedergebrannt wurde. An einem 27. Januar habe ich eine Klassenfahrten nach Theresienstadt gemacht. Ich habe mit Oma und Opa über die Zeit des Nationalsozialismus’ gesprochen und sogar “Schindlers Liste” im Leistungskurs Geschichte geschaut. Ich war ein vorbildlicher Vergangenheitsbewältiger und setzte mich zusammen mit meinen Altersgenossen mit der Vergangenheit auseinander. Jedes Jahr ein wenig mehr. Wir saßen im hier und ganz weit von uns auseinander, irgendwo, weit weg, die dunkele, böse Vergangenheit. Wir warfen Kränze ab, zündeten Kerzen an, verlegten Steine und sangen “Donna Donna”. Irgendwann bemerkte ich, dass einigen Schulkameraden die Vergangenheitsbewältigung anfing, Spaß zu machen.
Das war ihr Schlussstrich!
Vergangenheitsbewältigung wurde neben Autos und Bier das wichtigste Wirtschaftsgut des Exportweltmeisters Deutschland. Wie dramatisch sähen die Arbeitslosenzahlen in Deutschland aus, wenn es all die Arbeitsplätze in den Lern-, Gedenk- und Dokumenationsstätten, in den Holocaustforschungsinstituten und Universitäten der Antisemitismusforschung nicht geben würde. Die Stadt Berlin wäre um einer ihrer beliebtesten Sehenswürdigkeiten ärmer: das Holocaust Mahnmal, von dem Altkanzler Gerhard Schröder einst gesagt hat, es sei ein Ort, „wo man gerne hingeht“. Der Historiker Eberhard Jäckel brachte es sogar fertig, zu sagen: „Es gibt Länder in Europa, die uns um dieses Denkmal beneiden.“
Das war ihr Schlussstrich!
Ohne Holocaust hätte das ehemalige Waffen-SS-Mitglied Günter Grass niemals „Die Blechtrommel“geschrieben und somit vermutlich auch nie den Nobelpreis für Literatur erhalten. Ohne Holocaust hätte Volker Schlöndorff niemals „Die Blechtrommel“ verfilmen können und daher nie den Oscar für diesen Film erhalten. So gut wie alle Oscars für den deutschsprachigen Raum sind Resultate der Vergangenheitsbewältigung: Volker Schlöndorffs „Die Blechtrommel“, Caroline Links „Nirgendwo in Afrika“und Christoph Waltz Oscar für die Rolle eines Nazis.
Das war ihr Schlussstrich!
Ein Schlussstrich wird nämlich nicht nur dort gezogen, wo man Auschwitz vergisst, sondern auch dort, wo man Auschwitz instrumentalisiert, weil man glaubt, Auschwitz gut genug verstanden zu haben, dass man es nun als Instrument der politischen Debatte nutzen kann.
Auschwitz eignet sich jedoch nicht als Instrument. Aus dem Holocaust gibt es nichts zu lernen! Es darf nichts daraus zu lernen geben! Was soll uns denn der Holocaust gelehrt haben? Dass man Menschen nicht millionenfach vergast? Dass Juden auch Menschen sind? Dass man lieb zueinander sein sollte? Dass man sich wehren darf, wenn man verfolgt wird? Dass man Menschen, die andere Menschen vergasen, den Krieg erklärt? Dass man wahnsinnige Menschen mit allen Mitteln entwaffnet? All das sollte man auch ohne Holocaust wissen! Der Holocaust ist keine Nachhilfe für moralisch Sitzengebliebene.
Es gibt keinen Schlussstrich hinter Auschwitz, unter dem eine Lehre steht!
Auschwitz ist ein unvergessbares und unverzeihliches Verbrechen, aus dem es nichts zu lernen gibt! Trotzdem gibt es Menschen, die wollen etwas aus dem Holocaust lernen. Zu irgend etwas muss Auschwitz ja gut gewesen sein. Mir bereitet diese Instrumentaliesierung Bauschmerzen, vor allem, wenn ich sehe, welche Stilblüten die Instrumentalisierung annehmen kann. Am 27. Januar 2016 zum Beispiel postete Bodo Ramelow dieses Gedenkbild auf Facebook:
Erschienen auf Journalistenwatch

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